Essen, 04.12.2023 – Welche konkreten Auswirkungen hat das Oligopol im deutschen Lebensmitteleinzelhandel (LEH) auf Erzeuger und Ernährungsindustrie? Wie konnte es zu dieser Entwicklung und den damit verbundenen Wettbewerbsverzerrungen kommen? Gibt es für die Industrie überhaupt noch Verhandlungsspielräume mit dem LEH? Diesen zentralen Fragestellungen ging der Wettbewerbs- und Kartellrechtsexperte, Prof. Dr. Rainer Lademann, im Rahmen einer Veranstaltung des Agrar- und Ernährungsforums (AEF) am 04.12.2023 bei der MIAVIT GmbH in Essen nach. Rund 100 Branchenvertreter sind der Einladung des AEF gefolgt.
Prof. Lademann machte deutlich, wie marktbeherrschend die Handelsunternehmen Edeka, Rewe, Lidl und Aldi, die sog. „Big Four“, in Deutschland sind; ihr Gesamtumsatzanteil betrug bereits im Jahr 2021 85,5%. Diese Konzentration habe dazu geführt, dass es keinen reellen Wettbewerb mehr gebe und Lieferanten so gut wie keinen Verhandlungsspielraum mehr hätten. Das untermauerten die Zahlen seiner Studie „Marktbeherrschung im Lebensmitteleinzel-handel?“, bei der 156 Unternehmen zu den Auswirkungen dieser Entwicklung befragt wurden.
So berichtete er aus der Praxis, dass beispielsweise vor Verhandlungsbeginn, der LEH einseitig Vorbedingungen an die Lieferanten stelle, z.B. längere Zahlungsziele und Liefergarantien. So käme es laut Prof. Lademann gar nicht erst zu echten Verhandlungen über Konditionen, auch aufgrund der Tatsache, dass für rund 90 % der Hersteller der Verlust eines dieser großen Lebensmittelabnehmer existenzgefährdend sein könnte. Besonders perfide sei, dass der LEH vorgestellte innovative Produktansätze einzelner Unternehmer auf die lange Bank schiebe, zwischenzeitlich die Innovation kopiere und über seine Handelsmarken in den Verkauf gebe.
Er kritisierte deutlich, dass das Bundeskartellamt bis heute die Marktbeherrschung nicht anerkenne und dagegen vorgehe und insbesondere auch von einer gerichtlichen Klage absehe. Auch das seit 2021 eingesetzte Agrarorganisationen- und Lieferkettengesetz (AgraOLkG), das unfaire Handelspraktiken verhindern solle, funktioniere eher nur eingeschränkt. Hier mahnte er Anpassungen bzw. eine Korrektur an. Aus Angst vor einer Auflistung verzichten auch hier Lieferanten auf eine Klage, obwohl der LEH sich nicht rechtskonform verhalten würde.
Sven Guericke, der Vorsitzende des AEF, befürchtete aufgrund des vom Handel ausgeübten Preisdrucks und der Erwartungen des LEH an die Lieferanten eine noch stärkere Konzentration auf Erzeugerseite. „Der Strukturwandel der Branche ist auch hier bedauerlicherweise durch Konsolidierungsprozesse bestimmt. Eine immer kleiner werdende Zahl von Handelsunternehmen üben damit immer größeren Einfluss auf die Wertschöpfungsketten des Agribusiness-Sektors aus“, so Guericke. Hohe Auflagen und hohe Einkommens- und Sozialstandards in Deutschland führten häufig dann auch zu einer Verlagerung von Produktionen ins Ausland.
Der Sprecher der AEF-Arbeitsgruppe „Strategien für die Lebensmittelwirtschaft“ und Moderator der Veranstaltung, Johannes Eiken, sicherte den Teilnehmern zu, sich weiterhin mit diesem Thema auseinanderzusetzen. „Auch wenn die Fantasie für weitere (horizontale) Zusammenschlüsse im nationalen LEH fehlt, müssen wir feststellen, dass durch vertikale Konzentration infolge der Übernahme von Lebensmittelherstellern die Nachfragemacht des LEHs noch weiter ausgebaut wird.“